Warum werden Lost Places fotografiert?

Von André Winternitz, 28.06.2014

Oftmals sind es alleine die Bezeichnungen der „Verlassenen Orte“ (im Sprachgebrauch „Lost Places“ genannt), die eine magische Anziehungskraft – nicht nur auf Fotografen ausstrahlen. Ehemalige U-Boot-Bunker, Landesirrenanstalten, verlassene Kasernen, alte Flughäfen, stillgelegte Kraft- und vergessene Bahnwerke, ruinöse Schlösser, verfallene Villen sowie zahlreiche andere, die Vielzahl an aufgegebenen Orten und Plätzen ist schlicht unendlich. Über die Jahre ist die Zahl der weltweiten Fotografen, die ihre Motive in selbigen finden, geradezu explodiert. Immer wieder ist es die Schönheit des Verfalls und die surreale Umgebung, die an jenen Orten vorherrscht, die begeistert. Und nicht nur die Anzahl der Fotografen ist gestiegen, auch die Vielfalt der Motive hat sich kontinuierlich verändert – weltweit.

Es ist die besondere Atmosphäre und die unterschiedlichsten Lichtverhältnisse, die die Begeisterung der Lost-Place-Fotografie ausmacht. Je länger ein solcher Ort „verlassen“ ist, desto mehr Einflüsse sind wahrzunehmen. Hier geht es vor allem um die Reduktion eines Bildes auf die Kontraste von Licht und Schatten. Verwilderung, Rost, Staub, Moos, eindringendes Wasser, poröse Böden und Decken, abplatzender Putz, herunterhängende Tapeten – die Liste könnte ewig so weitergeführt werden. Alle Gegebenheiten sorgen häufig für teils skurrile, faszinierende aber auch bizarre Motive. Dazu geistern im Kopf die Fragen umher, bis wann das Gebäude genutzt wurde, wieso es leer steht oder wie die Zukunft des Objektes aussieht.

Lost-Place-Fotografen spalten sich auf in zwei Zielgruppen. Die Einen sind nur auf der Suche nach einem schnellen Schnappschuss oder vollziehen das konsequente Abarbeiten der bekannten Motive zur Erweiterung des eigenen, privaten Portfolios ohne Rücksicht auf Verluste. Häufig haben diese Werke jedoch einen rein „künstlerischen“ Aspekt. Andere Fotografen haben neben der Erkundung dieser verlassenen Orte und einem kleinen „Abenteuer“ – neben dem Foto – die Recherche zur Geschichte dieser Orte im Fokus, die sie antreibt.

Für manche Fotografen ist nicht nur die Fotografie und das Anlegen von Dokumentationen wichtig, es ist auch das sorgfältige recherchieren nach bestehenden Objekten und deren Erfassung sowie der Erfahrungsaustausch mit anderen Fotografen, Heimatpflegern und -vereinen, Liegenschafts- und Denkmalämtern, Investoren, Bauträgern und Entscheidern. Der dokumentarische und geschichtshistorische Aspekt rundet die Leidenschaft ab. Und es gibt einen weiteren wichtigen Aspekt: Einige Lost-Place-Fotografen möchten informieren und gegen das Vergessen ankämpfen. Was der Mensch erbaut hat, zerstört er meist, wissentlich oder unwissentlich. Das Ziel ist also auch, die Bauwerke nach ihrem Verschwinden nicht nur für die Nachwelt zumindest anhand von Fotografien erlebbar zu machen, sondern immer an dessen ehemalige Existenz zu erinnern.

Die meisten Fotografen kommen aus den Bereichen der Portrait-, Produkt-, Themen-, Industrie- oder Architekturfotografie und entdecken Lost Places für sich neu. Hier ist es in erster Linie die Parallele zwischen Objekten, die noch in Nutzung und Objekten die verlassen sind sowie dem historischen Grundgedanken. Für diese ist das fotografieren von Lost Places eine ernsthafte Form von Heimatgeschichte. Auch in der Aktfotografie findet sich ein eigenes Genre „Lost Places“, wo verlassene Orte für Aufnahmen genutzt werden. Dabei stehen jene eher im Hintergund. Als Begründung wird oft genannt, dass so eine Kontroverse zwischen dem morbiden, verfallenen und den oft jungen, meist makellosen Modellen erzeugt wird. Auch Werbe- und Produktfotografen binden immer öfter Lost Places in ihre Auftragsarbeiten zwecks Bekanntmachung, Verkaufsförderung oder Imagepflege eines Produktes oder einer Dienstleistung ein.

Heutzutage nutzt die Werbebranche immer wieder Lost Places als Kulisse für die Präsentation von Produkten. Die Spar- und Darlehnskassen beispielsweise warben mit zwei bekannten Persönlichkeiten in den Ruinen eines alten Chemiewerks bei Berlin für einen Wettbewerb. Ein namhafter Hersteller eines Kräuterlikörs nutzte den Innenhof einer stillgelegten Textilfabrik für eine Kampagne. Diverse Automobilhersteller präsentieren ihre Fahrzeuge gerne vor stillgelegten Industrieruinen oder leer stehenden Objekten (z.B. Zollverein, Henrichshütte, Tempelhof, Ferropolis etc.) um den Kontrast zwischen neu, elegant und dem Verfall deutlich hervorzuheben und eine Spannung zu erzeugen. Musiker und Bands produzieren auch immer öfter ihre Musikvideos in Lost Places. Die Bands Rammstein und Blutengel wählten für ihre Videos ebenfalls das alte Chemiewerk bei Berlin (hier wurden übrigens auch einige Szenen des Films „Enemy at the Gates“ gedreht), die Band Xandria drehte in der Zeitzer Nikolaikirche und viele weitere nationale und internationale Künstler in den Heilstätten Beelitz.

Immer mehr Unternehmen – gerade ist Ostdeutschland – bieten auf offiziellem Wege Fototouren in Lost Places an. Wer nicht ungestört auf Motivsuche gehen und diese mit seiner Kamera festhalten möchte, nimmt an entsprechenden Workshops teil, die parallel zu den Fototouren buchbar sind. Im Durchschnitt dauern diese Touren vier Stunden und kosten zwischen 40 bis 60 Euro – je nach Lost Place. Man kann darüber streiten, ob eine solche Art des „kommerziellen Sightseeings“ an solchen Orten sinnvoll oder förderlich ist – eine äußerst lukrative Geschäftsidee ist es allemal. Fakt aber ist, der Markt boomt und immer mehr Fototouren-Startups sprießen wie Pilze aus dem Boden. Ob der Charme einiger Orte allerdings immer noch einen Gänsehautfaktor verspricht, wenn neben einem selbst noch zwanzig weitere Fotografen durch die verlassenen Gebäude und damit vor die Linse huschen, ist eine andere Frage.