Woher kommt die Leidenschaft für Lost Places?

Von André Winternitz, 28.06.2014

Die Leidenschaft für verlassene Orte – so genannte „Lost Places“ hat ihren Ursprung in den 70er Jahren und kommt – wie so vieles – aus den USA. Meist waren es Schüler und Studenten, die sich in ihrer Freizeit zusammenfanden, und in waghalsigen Aktionen Brücken und Hochhäuser erkletterten, in Tunnel- und Bunkersysteme einstiegen, oder sich Zugang zu U-Bahnen oder öffentlichen Gebäuden verschafften, um diese zu erkunden und das Erreichte mit Fotos zu Beweiszwecken zu dokumentieren. Ein wesentlicher Aspekt, der eine ganze Szene prägte und die Leidenschaft zur Erforschung von Einrichtungen des städtischen Raums förderte, waren der Strukturwandel der Autoindustrie in Städten wie beispielsweise Detroit, wo durch den fortwährenden Niedergang und dem Bedeutungsverlust einer ganzen Infrastruktur bis heute der Verfall dominiert. Zudem verfügen Städte wie Detroit, Chicago, San Francisco, New York und viele mehr über ein riesiges Netz aus Kanalisationen und Tunnelsystemen. Ein Mekka für abenteuerlustige Heranwachsende also.

1977 gründeten Gary Warne, David Warren, Nancy Prussia und Adrienne Burk in San Francisco den so genannten „Suicide Club“. Bei der Wahl des Namens wurden die vier Gründer von drei Geschichten des Autors Robert Louis Stevenson inspiriert, in denen sich sterbewillige Menschen zum „Suicide Club“ zusammenfanden, wo jeden Abend ein Mitglied durch eine Zufallsauswahl sterben sollte. So realitätsfern diese Inspiration auch klingt, so bahnbrechend und wegweisend waren die „Unternehmungen“ der Club-Mitglieder für viele „Gleichgesinnte“ bis in das 20. Jahrhundert. Warne, Warren, Prussia und Burk machten es sich zur Leidenschaft, in erster Linie die weltbekannten und gigantischen Brücken ihrer Heimatstadt zu erklettern, ohne jegliche Sicherung und technische Hilsmittel – ein nicht nur lebensgefährliches, sondern auch höchst illegales Unterfangen.

Das Einsteigen in Kanalisationen, Tunnelsysteme oder U-Bahn-Stationen gehörte ebenso zur Leidenschaft der Mitglieder, wie verlassene Industriekomplexe und Gebäude aller Art, Katakomben oder noch aktive Staatsgebäude. Der Begriff „Urban Exploration“ (Stadterkundung) wurde geboren. Viele dieser „Erkundungen“ wurden als so genannte „Events“ organisiert, von denen die meisten als Trophäe zum Beweis der erfolgreichen Absolvierung in Bild oder auf anderem Wege festgehalten wurden. Alle Events starteten und endeten in Warnes Buchladen, in dem dieser bis zu seinem Tod 1983 arbeitete.

1985 schrieb Rolf Adams für die Gesellschaft für Höhlenforschung der Universität von Sydney die Serie „False Cave“ (Falsche Höhle) des Newsletters. Adams ist Experte auf dem Gebiet und steigt in seiner Freizeit in Abwassersysteme hinab und erkundet diese. Ein Jahr später wird in Australien der Cave-Clan gegründet, dessen Logo dem von Coca-Cola stark ähnelt. Die Gründungsmitglieder „Woody“, „Doug“ und „Sloth“ ließen sich von Alf Sadlier inspirieren, der für das Melbourne Metropolitan Board of Works (MMBW) Abwassersysteme installierte und bei jedem Projekt im letzten Segment seinen Namen und das Datum hinterließ. Zu den Aktivitäten des Cave-Clans gehörten – und gehören noch heute – neben der „Erkundung“ von Abwassersystemen auch Bunkeranlagen, Festungen, Dächer hoher Gebäudekomplexe und verlassene Gebäude. Zu den Mitgliedern gehören Menschen aller Schichten, vom einfachen Arbeiter bis zum Banker. 1989 erscheint der erste Newsletter von Gründungsmitglied Doug unter dem Namen „Il Draino“ für den Cave-Clan. Erstmals ist die Rede von „Lost Places“ und „Abandoned Places“.

1990 gründete sich um Vadim Mikhailov die Gruppe „Diggers of the Underground Planet“ in Moskau. Auch hier die große Leidenschaft: Abwassersysteme, Katakomben und verlassene Gebäude aller Art – wobei der Schwerpunkt klar im Untergrund zu finden war. Die Gruppe gerät jedoch unter Gleichgesinnten schnell in negative Schlagzeilen, da den „Diggers“ nachgesagt wurde, Touren für jedermann – gerne jedoch auch für Journalisten und Reporter anzubieten und sich diese gut bezahlen zu lassen. Mikhailov liebte die Öffentlichkeit, über ihn wurden zahlreiche Zeitungsartikel und TV-Berichte produziert. 1994 zog die Gruppe das öffentliche Interesse auf sich, als Mitglieder behaupteten, sie hätten einen Zugang zu einem „geheimen“ Tunnel in Moskau gefunden – genannt Metro-2 – der parallel zur eigentlichen Metrostation existiert, der zu Zeiten Josef Stalins erbaut und vom KGB mit dem Codenamen D-6 versehen wurde. Von öffentlichen Stellen jedoch wurde dies zu dieser Zeit als reine Spekulation abgetan.

Im selben Jahr gründeten sich in Sydney die “ Bunker Boyz“, mit dem Ziel, verlassene Bunkeranlagen und Militärhinterlassenschaften zu erkunden. In Amerika bringen Dug Song und Greg Shewchuk die erste Ausgabe ihres Magazins „Samizdat“ heraus. In diesem berichten sie über kuriose „Erkundungen“ im Untergrund oder dem Besteigen von Dächern – heute bekannt als „Rooftopping“. Es erscheinen insgesamt nur zwei Ausgaben.

1996 kommt es zwischen den „Diggers of the Underground Planet“ und der Moskauer Regierung zur gemeinsamen Kooperation unter dem Projektnamen „Center of Underground Research“. Im selben Jahr starten gleich mehrere Internetprojekte – darunter „Adventuring“ von Wes Modes und „College Tunnels WWW Resource Site“ von Ben Hines (die gleichzeitig eine Parallelseite zur Newsgroup „lt.college.tunnels newsgroup“ ist). In den Staaten gründet „Max Action“ und einige Mitstudenten von der University of Minnesota die Gruppe „Adventure Squad“, die später in „Action Squad“ umbenannt wird und als solche noch heute aktiv ist.

Jeff Chapman (Ninjalicious) bringt im selben Jahr das Magazin „Infiltration“ und parallel die gleichnamige Webseite heraus. Insgesamt erscheinen über die Jahre diverse Ausgaben und diese verschaffen dem Betrachter einen tiefen Einblick in ein zu dieser Zeit erstmals als Hobby bezeichnetes Genre. Ein Jahr später schreiben Lefty Leibowitz und L.B. Deyo Artikel zum Thema „Rooftopping“ und über verlassene Gebäude für das „Jinx-Magazin“. Der Verein „Berliner Unterwelten“ wird gegründet – mit dem Ziel den Berliner Untergrund zu erforschen und zu dokumentieren. Somit schwappte das breite Themenspektrum auch über den großen Teich nach Europa.

1998 erscheint das erste Buch „Invisible New York: The Hidden Infrastructure of the City“ zum Thema von Stanley Greenberg. Ebenfalls in diesem Jahr wird das erste deutsche Buch von Dietmar und Ingmar Arnold (Berliner Unterwelten) unter dem Namen „Dunkle Welten – Bunker, Tunnel und Gewölbe unter Berlin“ veröffentlicht. Ein Jahr später findet das erste Event in New York statt – „Dark Passage“ unter der Organisation von Julia Solis. Der Sydney Cave Clan veröffentlicht die erste Ausgabe seines Magazins „Urbex“. In den Folgejahren erscheinen diverse Webseiten, Newsgroups, Projekte, Gruppierungen und Bücher. Nach dem 11. September 2001 und den Terroranschlägen auf die USA wird das Leben der abenteuerlustigen „Entdecker“ verlassener oder öffentlicher Orte zunehmend schwieriger.

2002 gründet die Schriftstellerin und Fotografin Julia Solis in New York das Projekt „Ars Subterranea“ – das sich aus Künstlern, Fotografen, Historikern und Stadtforschern zusammensetzt, sich als Schnittstelle zwischen Kunst und Architektur sieht, Veranstaltungen organisiert und über Konzepte und Möglichkeiten gegen den Verfall informiert. Im selben Jahr veröffentlicht Solis das Buch „New York Underground: Anatomie einer Stadt“. Weitere Werke anderer Fotografen und Untergrund-Künstler folgten.

2004 fanden gleich mehrere Events statt. Zu nennen wären da die „Office Products Expo 94“ in Toronto, eine mehrtägige Urban Exploration-Convention, bei der sich mehr als 80 Gleichgesinnte zusammenfanden. Darauf folgte die „NEOPEX – North East Office Products Expo“ in New York und das „Sexfest – South Eastern eXploration Festival“ in Orlando, Florida. 2005 folgte die „Office Products Expo 95“ in Montreal – eine Fortsetzung des Vorjahres-Events in Toronto. Zum ersten Mal folgten dem Aufruf zum Event Fotografen und „Abenteuerlustige“ aus der ganzen Welt.

Ebenfalls in 2005 veröffentlichte Jeff Chapman das Buch „Access All Areas: A User’s Guide to the Art of Urban Exploration“, dass zu einem Meilenstein in der Historie zum Thema „Urban Exploration“ wurde – genauer zu dem „must-read“ für alle Neueinsteiger und Fortgeschrittene. Kurz nach der Veröffentlichung des „Ratgebers der Szene“ – wie sein Buch heute noch oft genannt wird – starb Chapman im Alter von 31 Jahren an Krebs. Chapman galt als einer der einflussreichen Mitbegründer der Urban Exploration Szene und setzte sich für die Popularisierung und der damit verbundenen Einstellung zum Thema „Urban Exploration“ ein. Ein Engagement, dass in der heutigen Zeit längst nicht mehr selbstverständlich ist.

In Deutschland und Europa formte sich in den Jahren 2004 bis 2011 ebenfalls eine beachtliche Szene, die zuerst noch als Community fungierte und funktionierte. Diverse Webseiten und Foren entstanden und zogen ihre Zielgruppe an. Nennenswert hierbei sind Seiten wie „Sperrzone“, „Forbidden Places“, „Subterranea Britannica“, „Reactor4“, „Derelicta“ oder Foren wie „28DaysLater“, „UER“, „UK Urbex“, „lost-places.com“ und andere. Beobachten konnte man hier allerdings einen neuen Trend. Das Augenmerk der Fotografen und „Entdecker“ lag nun nicht mehr auf dem eigentlichen Begehen von Lost Places und wenigen Bildern als Referenz, sondern auf der Dokumentation und Erfassung selbiger. Wo anfangs noch oberflächlich der Kick des Verbotenen im Vordergrund stand, konnte man nun ausführliche Bilderstrecken und historische Chroniken finden. Auf diesen Zug sprangen erfreulicherweise viele Projekte auf.

Auch die Themenvielfalt wurde konsequent erweitert. Ob Tunnelsysteme, Bunker- und Industrieanlagen, Sanatorien, Herrenhäuser usw. – Lost Places gab und gibt es wie Sand am Meer. Es war die Leidenschaft eines jeden, selbige zu recherchieren und zu besuchen, zu dokumentieren. Hinzu kam das Erleben einer besonderen Atmosphäre – jeder Lost Place ist anders, erzählt seine eigene Geschichte – und der Reiz, möglichst viel von allem aufzusaugen. Doch wo viele „Gleichgesinnte“ aktiv sind und wo enorme Mengen an Objekten gesammelt oder zusammengetragen werden, finden sich nicht nur Gönner, sondern in erster Linie Neider – Trolle wurden magisch angezogen. Der Verfall einer ganzen Szene hatte begonnen.

2012 fand das erste offizielle, europäische Event in Deutschland statt, das „UEM – Urbex Europe Meeting“. Dieses wurde lange vor dem Stattfinden von diversen Seiten extremst attackiert und boykottiert – trotzdem fanden sich rund 70 Personen aus Belgien, Spanien, den Niederlanden und Deutschland ein. 2013 folgte das Fortsetzungs-Event des UEM, ebenfalls in Deutschland – hier kamen nur noch rund 50 Teilnehmer. Zu beobachten war hier nicht das steigende Desinteresse an der Veranstaltung, sondern der wachsende Druck einer gewissen „Front“ auf interessierte Teilnehmer gerade in sozialen Netzwerken. Letztere bleiben auch heute noch einer Veranstaltung lieber fern, aus Angst zur Zielscheibe zu werden und sich Shitstorms ausgesetzt zu sehen. Zudem ist die Befürchtung groß, dass dann die oft sprudelnde Quelle mit Informationen zu Objekten versiegt.

In den Jahren 2012, 2013 und 2014 kam es zu einem regelrechten Boom, nicht nur in Deutschland, auch in Europa, Amerika und anderen Kontinenten. Jeder entdeckte plötzlich seine Leidenschaft für verlassene Orte und dies musste natürlich, wo es nur geht, auch wirksam publiziert werden. Der Grund hierfür waren in erster Linie soziale Netzwerke wie Facebook und Co., wo sich Anhänger der „Lost Places“ in ganzen Szenen und Gruppen nicht nur organisierten, sondern es auch zu regelrechten Machtkämpfen kam und kommt. Jeder sah sich ab sofort als Historiker der ersten Stunde, der das Recht hat, nicht nur Regeln aufzustellen, sondern auch über andere zu urteilen. Richtig anerkannt ist in Augen vieler Moralapostel bis heute nur der, der die geheimsten, ultimativsten, top-erhaltenen Orte besucht und die spektakulärsten Fotos wie Trophäen präsentiert. Man ahnt, welche Risiken und Nebenwirkungen dies auslöst.

Erschreckend hierbei ist auch die Tatsache, dass der Großteil kein Risiko- und Rechtsbewusstsein mehr kennt, keinen Respekt vor Fremdeigentum hat und Orte handelt wie auf einer Tauschbörse. Lange vorbei ist die Zeit der Selbstrecherche, die mühevollen Tage und Wochen der Tourplanung, das ehrfürchtige Genießen der vorgefundenen Atmosphäre – heute geht es um das schnellstmögliche Abarbeiten ganzer Objektlisten. Wer darunter am meisten leidet, sind die Orte an sich – Schaden nehmen in erster Linie die erhaltenswerten Orte und Gebäude, in Zeiten von Facebook und Co.

Die kommenden Jahre werden zeigen, wohin die Reise geht. Wieder einmal kommt man zur Erkenntnis, dass früher alles besser war, oder doch nicht? Diese geschichtliche Abwandlung zeigt, wie alles begann und wie sich etwas entwickelt hat, das nur noch schwer zu kontrollieren und aufzuhalten ist. Ein Ergebnis auch der digitalen Revolution – der zweiten Moderne. Es heißt, jeder Hype ist einmal vorbei – wenn dem so ist, wo ist das Ende und wann ist dieses erreicht? Es wird Zeit, das erkannt wird, das das Thema „Lost Places“ ein sensibles ist und man mit diesen Orten ebenso umgehen sollte. Respekt verdient der, der nicht mit dem Finger auf andere zeigt, um sein Gemüt zu befriedigen – sondern der, der mit gutem Beispiel vorangeht und das macht, worum es bei dieser Leidenschaft geht: Objekte zu erfassen, diese zu erkunden und zu dokumentieren und die Schönheit des Verfalls sichtbar zu machen, egal wo auf der Welt.

Es braucht mehr Menschen wie Jeff Chapman, die sich offen und in breiter Öffentlichkeit zu ihrem handeln bekennen und Aufklärungsarbeit leisten, ohne sich für ihr Tun unter „Gleichgesinnten“ verstecken oder entschuldigen zu müssen. Denn es sollte zum Wortschatz-Portfolio eines jeden Lost-Place-Fans gehören, bei Gesprächen mit den Medien mehr als nur „illigal“, „Hausfriedensbruch“ und „Urban Explorer“ herauszubekommen. Diese sollten aufklären können, warum es Menschen gibt, die sich Lost Places verschrieben haben.