Was sind eigentlich „Verlassene Orte“ (Lost Places)?

Von André Winternitz, 28.06.2014

Was der Mensch erbaut, dass zerstört er auch – meistens jedenfalls. Genauso verhält es sich mit den „Lost Places“. Lost Places ist ein Scheinanglizismus und bedeutet vereinfacht gesprochen „vergessene oder verlassene Orte“. In erster Line werden jene Orte oder Immobilien als Lost Places bezeichnet, die nach ihrer Aufgabe und dem daraus resultierenden Leerstand das Interesse der Allgemeinheit verloren haben. Jene Orte, die nirgends besonders erwähnt, in keinem Stadtguide oder Reiseführer gelistet sind und äußerlich wirkend schlichtweg vergessen wurden. Orte, die meistens von den Eigentümern vernachlässigt, für viele Menschen in der Umgebung ein Schandfleck und für die Städte, Kommunen und Gemeinden eine Belastung sind. Fast jeder stößt bei der Fahrt durch seine Stadt oder seinen Ort irgendwann unweigerlich auf einen verlassenen Ort – einen Lost Place. Sei es die ehemalige Waldklause am Wegesrand, das lange geschlossene Hotel mitten im Wald oder die Industrieruine im Zentrum – Lost Places gibt es mehr, als jemals erfasst werden können.

Lost Places sind verlassene, nicht mehr genutzte Stollen und Bunker, militärische Anlagen jeder Art, Industrieruinen und Gewerbebetriebe, Flugplätze, Sanatorien, Heilstätten und Kliniken, Guts- und Herrenhäuser, Hotels, Bahnanlagen usw. – zusammengefasst jene Orte, die nicht touristisch erschlossen, der Allgemeinheit nicht zugänglich sind und die dem Besucher die Möglichkeit geben, die vorherrschende, authentisch-historische Atmosphäre zu erleben. Lost Places sind also jene Orte, die im Kontext ihrer ursprünglichen Nutzung heute ihrem Schicksal überlassen werden. Oftmals wird das Aufsuchen und Betreten dieser Orte als Zivilisationsflucht beschrieben – denn dort scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Lost Places haben ihren ganz eigenen Charme, jeder Ort ist auf seine Art anders, keiner ähnelt dem anderen. Denn was man dort zu sehen bekommt, findet man in einem Museum nicht. Nichts wurde inszeniert oder montiert, nichts aufgearbeitet oder nach gewissen Vorgaben einem breiten Publikum präsent gemacht. Je länger ein Lost Place in Vergessenheit geraten ist, desto mehr Facetten des Verfalls bieten sich dem Betrachter.

Bei Lost Places und den nicht alltäglichen, eleganten, verwunderlichen, oder auch bizarren Kulissen, die sich dem Betrachter bieten, spricht man auch von der „Schönheit des Verfalls“ oder dem „Reiz des Vergessenen“. Doch so magisch anziehend diese Gegebenheiten auch sind, rechtlich gesehen befindet sich jeder, der solche Orte betritt in einer Grauzone. Aus diesem Grund gibt es viele Fotografen oder Hobbyhistoriker, die ihrer Leidenschaft anonym nachgehen und ihr Bildmaterial oder die recherchierten Daten nicht öffentlich zugänglich machen. Natürlich bringt das Betreten aufgegebener Orte auch oft Risiken mit sich. Durch Verwitterung, Brände oder Vandalismus besteht an selbigen oft akute Lebensgefahr. Immer wieder kommt es zu Teileinstürzen oder sonstigen statischen Veränderungen der Substanz.

Über die Jahre hat sich weltweit eine große Gemeinschaft gebildet, die sich der Erfassung und Dokumentation dieser Lost Places – unserer Zeitzeugen – gewidmet hat. Auf Webseiten, in Foren oder sozialen Netzwerken publiziert diese ihre Bilder, die chronologischen Historien oder Geschichten hinter den Orten. Sie alle haben ein Ziel: Möglichst viele Lost Places entdecken und kategorisieren, bevor die Abrissbirne alles zunichtemacht. Doch auch immer mehr andere Genres entdecken verlassene Orte für sich. Geocacher, Crossgolfer, BMX-Trialfahrer, Parcourer und andere nutzen Lost Places ebenfalls für ihre Zwecke, wenn hier auch oft zu fragwürdigen Gründen.

Spricht man heute von Ruinen, so fällt immer öfter das Wort „Lost Places“. Grund dafür sind die häufigen Medienberichte, die jenes „Genre“ oder Fotografen, die Lost Places ablichten, zum Thema haben. Meistens sind die Artikel oder TV-Beiträge jedoch inhaltlich oberflächlich gehalten, mit dem Ziel, die Auflage oder Einschaltquote zur erhöhen. Nur selten beschäftigt man sich hier mit historischen Fakten der Orte, wichtiger ist da die Geschichte um den Protagonisten im Beitrag, der sich laut Autoren natürlich immer am Rande der Illegalität bewegt, den Nervenkitzel, den jener bei der Begehung solcher Orte hat und in welchen sozialen Netzwerken dieser seine Fotos teilt. Als Grund für eine nur oberflächliche Thematisierung der Lost Places wird von den Medien die Verschwiegenheit der Fotografen gegenüber Dritten angegeben, die Realität jedoch sieht ganz anders aus.

Das öffentliche Interesse für Lost Places ist enorm gestiegen, leider nicht nur zum Vorteil. In den Hintergrund ist die liebevolle, sorgfältige und ehrfürchtige Erfassung und Dokumentation der vergessenen Orte schon lange geraten. In ist, wer „drin“ war und wer „dazugehört“. Möglichst viele Fotos von möglichst vielen Orten – ohne einen Anspruch auf fotografisch-handwerkliche Qualität – und ohne Rücksicht auf jene Orte oder Immobilien, die einst von Erfindergeist und Wohlstand zeugten – ja Hinterlassenschaften der verschiedensten Epochen sind. In Zeiten von Facebook und Co. sind private „Fanseiten“ – die sich augenscheinlich den Lost Places verschrieben haben –  im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Boden geschossen. Schon lange geht es nicht mehr um die ausführlichsten, aktuellsten und gepflegtesten Dokumentationen und Archive, sondern um Masse statt Klasse.

Zusammengefasst sind viele Lost Places unter Betrachtung der Tatsachen in Wirklichkeit also gar nicht verlassen. Dies ist natürlich nur bedingt wünschenswert. Denn sooft der alte Bunker im Wald, das Sanatorium im Ort, die Industriebrache am Rande der Stadt oder die Villa am Wegesrand auch fotografiert und somit für die Nachwelt zumindest digital konserviert werden, sooft richten Metalldiebe, Souvenirjäger, Vandalen und Neugierige einen großen Schaden an. Und dies liegt nicht an der Veröffentlichung solcher Orte oder an der Weitergabe von Informationen, sondern an der Dekorationswut mancher Fotografen, den umherziehenden, organisierten Schrottsammlern und der ortsansässigen, gelangweilten Jugend in unmittelbarer Nähe zu solchen Objekten.

Zukünftig wird man sorgfältig abwägen müssen, in welche Richtung sich der Hype bewegen soll. Engagiert man sich für den Erhalt und den Schutz von verlassenen Gebäuden und Orten und ist wirklich an jenen nicht nur oberflächlich interessiert, so wird man zurück zu alten Werten finden müssen. Dann ist eine gut gepflegte und sortierte Internetpräsenz wichtiger, als die große Show samt Bilderflut in Tausenden, nach wenigen Tagen im Nirwana verschwundenen Alben in den sozialen Netzwerken. Wer dies erkennt, wird Großes leisten können – nicht nur für sich selbst, sondern in erster Linie für die Nachwelt.