Der mediale Hype um Lost Places

Von André Winternitz, 29. März 2016

Längst haben Verlage für ihre Zeitungen und Magazine erkannt, dass die Faszination für verlassene Orte (Lost Places) immer populärer wird. Neben der üblichen Weltpolitik auf Seite eins und den spröden Lokalnachrichten über Vereinswesen und Dorffeste ist man verständlicherweise auf der Suche nach frischen Themen und weiteren Zielgruppen für die Leserschaft – auch um mit der Konkurrenz mitzuhalten. Also stößt man bei der Recherche unweigerlich auf Fotografen, die in ihrer Freizeit in Ruinen umherwandeln, um diese zu fotografieren. Doch wer nun meint, journalistisch wertvolle Artikel über Menschen und deren Beweggründe zu lesen, die sich mit der Dokumentation aufgegebener und verfallender Bauwerke beschäftigen, wird enttäuscht. Denn in Zeiten, wo freie Redakteure oder Volontäre unter Zeitdruck und für einen mageren Obolus knappe und oberflächliche Texte zu ressortfremden Themen abliefern, muss man sich über die mangelnde Qualität nicht wundern.

Heute ist es üblich, dass prinzipiell jeder, der sich in irgendeiner Weise mit verlassenen Orten beschäftigt, als „Urban Explorer“ (Stadterkunder) bezeichnet wird. Dabei ist es egal, ob es sich um Hobbyhistoriker, Denkmal-, Heimat- oder Stadtforscher, Architekturfotografen usw. handelt. Einmal in dieser Schublade fällt eine Distanzierung schwer. Vielen „heranwachsenden“ Abenteuerlustigen kommt dies natürlich zugute. Sie lockt mehr der Reiz des illegalen und die Bestätigung unter Gleichgesinnten. Anstatt in Jugendzentren oder vor der Spielekonsole abzuhängen, treibt man sich in Ruinen herum und postet seine zügig erstellten Bilder in den sozialen Netzwerken. Als Mitglied der Urban Exploration Szene erfahren selbst Außenseiter Bestätigung – je mehr Likes die veröffentlichten Bilder bekommen, desto größer wird das Ego. Das „Urban Exploring“ so zu einem Mainstream geworden ist, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Genau diese Fakten greifen die Medien für ihre Zwecke auf.

Was bei auflagenschwachen Lokalmagazinen nicht weiter verwunderlich ist, handhaben selbst renommierte Qualitätsmedien bei Artikeln über das Thema „Lost Places“ erschreckenderweise gleich. Gerne greift man bei Protagonisten für die Artikel auf Jugendliche oder engstirnige Personen zurück. Diesen gaukelt man dann einen „spannenden“ Bericht über das Hobby vor. Mit reißerischen Schlagzeilen wird die müde Leserschaft zuerst geködert. Der eigentliche Inhalt aber ist häufig belanglos, ermüdend und vor allem immer derselbe. „Urban Explorer“, die Lost Places meistens illegal betreten und somit Hausfriedensbruch begehen, die infiziert von der Schönheit des Verfalls sind und wie viele Likes ihre Facebook-Seite hat. Das Muster ist immer gleich. Wenig Aufklärung, oberflächliche Recherchen, Protagonisten ohne Erfahrung, Fachwissen und schlimmer, ohne irgendeinen Hang zur geschichtlichen Bedeutung solcher fotografisch erfassten Orte. Abschließend werden jene „Abenteurer“ der Leserschaft noch als Fotografen präsentiert, die verlassene Orte zu Dokumentationszwecken ablichten.

Größtenteils bezeichnen Print- und Onlinemedien ihre Protagonisten in den Artikeln als Bewahrer der vergessenen Orte und ihrer Geschichte. Schwer zu glauben, denn ein konzeptloses „knipsen“ bei Wind und Wetter im Schnelldurchlauf, ein posieren mit Karnevalsmasken, pubertierendes Wichtiggetue und Klugrednerei hat mit Dokumentation nicht allzu viel zu tun. Hier werden eher die Trophäen der Mutproben (Einsteigen in verlassene Bauwerke, Anm. der Redaktion) einer breiten Masse präsentiert – nichts weiter. Den Medien ist das egal und hinterfragt werden Aussagen prinzipiell nicht. Je bunter und abenteuerlicher die Schilderungen sind, desto mehr Leser werden geködert. Dass solche Artikel, die sich Jahr für Jahr häufen, immensen Schaden anrichten – gerade was die seriöse Zusammenarbeit von Architekturfotografen, Dokumentatoren und Historikern mit Immobilienverwertern, Eigentümern, Behörden und Zeitzeugen angeht – wird grundsätzlich missachtet.

Reißerische Artikel und Formate häufen sich

Fast jede größere Zeitung oder Magazin hat in den vergangenen drei Jahren, seitdem der Hype um Lost Places enorm gestiegen war, über die „Ruinenliebhaber“ berichtet. Alle ähnelten sich, keiner hob sich deutlich von anderen ab. Ein paar Negativbeispiele: Die MOPO24 veröffentlichte den Artikel „Urban Exploration – wie illegal ist das Ganze“ und sprach mit zwei maskierten Dresdnern über ihre bahnbrechenden Fototouren jenseits der Legalität. Die Frankfurter Allgemeine erklärt mit seinem zweideutigen Titel „Urban Explorer – in die Geschichte einsteigen“ den wachsenden Trend der Ruinenfotografie und spricht mit einem geheimnisvollen, namenlosen Unbekannten. Selbe Zeitung schreibt unter gleichem Artikel über einen Urban Explorer, der in Tarnkleidung bekleidet und mit Schreckschusspistole bewaffnet – die er gerne mal abfeuert – in verlassene Gebäude einsteigt. Es ist einer der Artikel, der zeigt, welche paranoiden Gestalten in der heutigen Zeit unterwegs sind.

Bild.de begleitete einen Fotografen, der seine streng geheimen Objekte nicht preisgibt und erzählt, wie lebensgefährlich sein illegales Hobby ist. Der Kölner Stadtanzeiger präsentierte eine 15-Jährige (!!!) Fotografin, die sich in einer rechtlichen Grauzone bewegt und beispielhaft von ihrem ehrziehungsberechtigten Vater begleitet wird (Vorsicht Ironie). Ein Interview mit einem Wachmann auf bento.de erklärt dem unwissenden Leser, warum er sich beim Betreten von Lost Places strafbar macht. Ein anderes Streitthema griff eine Bloggerin im Onlinemagazin wired.de auf. Sie kritisierte das Verwenden von Location Tags auf Instagram. So lobenswert der gebetsmühlenartige Beitrag auch ist, er gibt nur oberflächlich die Meinung eines „Außenstehenden“ wieder. Man könnte die Beispiele in den Print- und Onlinemedien endlos weiterführen.

Das Prosieben-Format „Galileo“ – das als Wissensmagazin beworben wird – beschäftigt sich seit einiger Zeit ausführlich mit dem Thema „Lost Places“. Anfangs wurden noch markante, geschichtshistorische, heute aufgegebene Bauwerke in der Bundesrepublik vorgestellt und mit Historikern oder anderen Experten wunderbar aufbereitet. Den Zuschauer setzte man virtuell in die Vergangenheit zurück und machte erlebbar, wie jene Bauwerke nicht nur zu aktiven Zeiten aussahen, sondern zu welchem Zweck diese dienten und wie der tägliche Betrieb dort aussah. Hier hatte das Format noch klar erkennbar einen informativen Charakter, war gut recherchiert. Heute ist das anders. Je mehr Folgen dieser Reihe ausgestrahlt werden, desto mehr steht der reine Unterhaltungswert im Fokus. Ein Filmteam reist mit einem „Urban Explorer“ durch Europa. Diesen interessiert weniger die Geschichte hinter den Gebäuden, mehr der Reiz des illegalen und das Fotomotiv, was vom Sprecher in jeder Folge mehrfach betont wird. Bildungswert also gleich null.

Für den History-Channel (Pay-TV) wurden in diesem Jahr (2016) kurze Folgen für das neue Format „Wigald & Fritz – Die Geschichtsjäger“ produziert. Moderator ist TV-Star und Outdoor-Experte Wigald Boning. Gesucht wurden im Vorfeld zu den Dreharbeiten, Zitat: „unterhaltsame und wissende Experten für verlassene Orte und Bauwerke in Deutschland, die selbige mit einem Moderator erkunden.“ „TV-taugliche“ Bewerber sollten im Vorfeld wie bei einem Casting-Verfahren einen dreiminütigen Filmclip einsenden, um sich dem Produktionsteam vorzustellen. Entschieden hatte man sich dann neben Boning für einen Survivalisten und „Urban Explorer“. Aus den „Lost Places“ wurden dann Museen und offiziell erkundbare Orte – deswegen änderte man auch den Arbeitstitel, der zuvor „Lost Places – Jäger der verlassenen Orte“ lautete. Es liegt also die Vermutung nahe, dass hier mehr Anspruch auf ein saloppes als ein tiefgründiges Wissensformat gelegt wird, bei dem die beiden Protagonisten die vorgestellten Orte eher zur Nebensächlichkeit werden lassen. Dabei ist es eigentlich üblich, der zahlenden Zunft hochwertige und tiefgründige Formate anzubieten. Hier darf man also gespannt sein.

Mehr journalistischen Tiefgang bitte

Dabei sind es lange nicht mehr die Urban Explorer, die verlassene Orte zu dokumentarischen Zwecken fotografieren. Bei der geradezu explodierenden Anzahl an „Lost-Place-Fotografen“ – nicht nur ausgelöst durch die zahlreichen Wildwest-Artikel – zählt heute weder das Bauwerk, noch die Chronologie und schon gar nicht die sorgfältige Katalogisierung. Die Zeiten, in denen rücksichtsvoll und sensibel mit Lost Places umgegangen wurde, sind lange vorbei. Wie ein Heuschreckenschwarm auf Extasy fallen die Neu-Fotografen über die Objekte her, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Respekt vor der Geschichte. Diese Fakten verschweigen Medien aber gerne, bewusst oder unbewusst. Räuberpistolen lesen sich nun mal besser als Fakten, dies ist nicht nur bei vergessenen Orten so. Und da eine Geschichte über einen vergessenen Ort oft unbequem und verstörend sein kann, reduziert man sich in den Redaktionen lieber auf Großstadthelden und Nachwuchsarchivare.

Es wäre wünschenswert, wenn es zukünftig etwas intelligentere Artikel gäbe, aber auch etwas mehr Originalität und inhaltlichen Witz, mit frischem tiefgründigem Biss. Artikel, die die hypegesteuerten „Motivjäger“ und modernen „Abenteurer“ links liegen lassen und dafür lieber mit Zeitzeugen und Historikern sprechen.